An der Schwelle zur nächsten technologischen Entwicklungsstufe, die auch die Logistik sowie das Supply Chain Management (SCM) insgesamt betreffen wird (Stichwort: Industrie 4.0), bekommen altbekannte Probleme ebenfalls eine neue Komponente. Ein Grundproblem der Lagerbestandshaltung - aber nicht nur dort - kann mit dem Zeitungsjungenmodell umschrieben werden.
Was ist das Zeitungsjungenmodell?
Die Grundkonstellation dieses Modells kann wie folgt beschrieben werden: Man stelle sich einen klassischen Zeitungsjungen vor, der an einer Straßenecke steht und die aktuelle Ausgabe an den Mann beziehungsweise die Frau bringen will. Er weiß nicht genau, wie viele Exemplare er an einem bestimmten Tag verkaufen wird. Er muss sich also im Vorfeld überlegen, wie viele Exemplare er am Tagesbeginn ankauft, um diese dann im Laufe des Tages weiterzuverkaufen. Dabei ist sein Einkaufspreis sowie der Verkaufspreis an die Passanten fix. Unsicher ist die Nachfrage, sprich die Menge, die der Zeitungsjunge tatsächlich verkauft. Da sein Gewinn sich aus dem Preisunterschied sowie dem Unterschied der verkauften und nicht verkauften Zeitungen ergibt, muss er eine Erwartung über die Nachfrage bilden. Am Ende des Tages möchte er bestenfalls keine Zeitung übrig haben und jede Nachfrage bedient.
Damit ist die nachgefragte Menge eine Zufallsvariable im statistischen Sinne. Die Erwartung, die der Zeitungsjunge bildet, und damit die Menge, die er am Tagesbeginn ankauft, hängt somit von der Verteilung der Nachfragemenge ab. Weiß der Junge beispielsweise aus Erfahrung, dass die Nachfrage einer Normalverteilung (eine bestimmte Menge hat die höchste Wahrscheinlichkeit, einzutreffen, die jeweiligen Mengen höher und niedriger fallen in den Wahrscheinlichkeiten in einer bestimmten Weise) folgt, dann bildet sich seine Erwartung nach dem Durchschnitt der Normalverteilung. Ist die Nachfrage in einem bestimmten Mengenbereich jeweils gleich wahrscheinlich, bildet der Junge ebenfalls den Durchschnitt, der seine Erwartung entspricht. So hat er ein Entscheidungskriterium, nachdem er die anzukaufende Menge der Zeitungen bestimmen kann.
Übertrag in die Logistik
Diese Problematik einer unsicheren Nachfrage, die einer unterstellten Verteilung folgt, bei festen Preisen und Kosten lässt sich somit relativ einfach in die Logistik übertragen. Typische Beispiele betreffen die Lagerhaltung, insbesondere den optimalen Lagerbestand und die optimalen Bestellmengen. Dabei wird die zeitliche Dimension explizit mitberücksichtigt (Transportwege, Produktionszeiten, Distributionszeiten) sowie Bestände "auf dem Weg".
So lässt sich eine optimale Lagerhaltung für den Bestand an Fertigerzeugnissen bestimmen, der Schwanken der Nachfrage bei den Endkunden berücksichtig, aber auch Lagerbestände in Hinsicht auf den Fertigungsprozess, wo der Materialbedarf der jeweils nachgelagerten Produktionsstufe als schwankende Nachfrage interpretiert werden kann. Das kann weiter zurückgerechnet werden hin zu optimalen Bestellmengen sowie Lagerbestände für den Bereich Einkauf. Die Abstimmung erfordert heute eine entsprechende IT-Lösung für das SCM.
Stärken und Schwächen
Das Zeitungsjungenmodell mit seinen Erweiterungen ist eine wichtige Entscheidungshilfe für das SCM, um Warenbewegungen innerhalb des Produktionsprozesses sowie Lagerbestände in der Inbound- und Outboundlagerhaltung (mit eventueller Zwischenlagerhaltung) optimal gestalten zu können. Lässt sich die Produktion stufenweise zerlegen, ist prinzipiell das Modell für jede Stufe nutzbar. Allerdings sind unter Umständen Rückkopplungen bei der Produktion oder andere Dynamiken nur unzureichend im Modell abbildbar. Das Grundmodell bietet zudem keine Risikobewertung, hierfür müssten die höheren Momente der Verteilung (insbesondere die Volatilität) mitmodelliert werden.